Mittwoch, 30. März 2016

Der verschwiegene Bürgerkrieg. Gewalt und Repression gegen Roma

die vollständige Arbeit „Der verschwiegene Bürgerkrieg. Gewalt und Repression gegen Roma in Europa“ inklusive aktualisierter Dokumentationen als  PDF


Einleitung

2009 schrieb ich meinen ersten Artikel zu Pogromen und Angriffen auf Roma in Ungarn und der Tschechischen Republik. 2010 folgte ein weiterer kurzer Artikel zu der Situation der Roma in Kosovo, welche Ziel von schweren Angriffen durch albanische Nationalisten wurden und 1999 wider besseren Wissens auf ein von Blei vergiftetes Gelände untergebracht wurden. 2006 hatten mindestens 40 Kinder aus diesem Lager mit Bleivergiftungen zu kämpfen, die Symptome waren u.a. Erbrechen, Erinnerungsverlust, Krämpfe. Weitere mögliche Folgen sind ein frühzeitiger Tod und irreversible Hirnschäden. Mindestens ein Kind starb an den Folgen der Bleivergiftung. Im Zuge der weiteren Recherche wurde mir bald klar, dass Repression und Gewalt gegen Roma ein Fass ohne Boden ist. Dachte ich 2009 noch, die pogromartigen Ausschreitungen in Litvinov wären eine Ausnahme, so wurde ich bald eines besseren belehrt. Die penible und umfassende Sammlung an Daten, Berichten und Zeugenaussagen durch das ERRC, Menschenrechtsorganisationen und die entsprechenden Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte werfen ein schreckliches Licht auf die tatsächliche Situation der Roma in Europa.
Das Ziel der Arbeit war es einen sachlichen Mangel in der deutschsprachigen und internationalen Diskussion um die Situation der Roma in Europa aufzuzeigen: Erstens ist das konkrete Ausmaß der Gewalt gegen Roma nur wenigen Experten bekannt. Die Masse der Quellen ist nur in Englisch verfügbar, daher galt es einmal, die Geschichte der Gewalt gegen Roma überhaupt einmal sachlich zu ordnen und einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Dazu verfasste ich eine Chronik der Pogrome und Mobgewalt in Europa und eine Chronik schwerer Polizeigewalt gegen Roma (welche nach meiner Einschätzung allerdings nur einen beschränkten Teil der tatsächlichen Zahl an Übergriffen dokumentiert). Basierend auf Berichten und Meldungen von NGOs und Medien komme ich ferner zum Schluss, dass die Situation der Roma in Europa mit Begriffen wie Diskriminierung, Übergriff oder Ausgrenzung nicht adäquat beschrieben ist. Roma in Europa werden nicht allein in bestimmten sozialen Bereichen benachteiligt, sondern systematisch isoliert, degradiert und entrechtet. So werden sie vogelfrei und zum Ziel von Gewalt durch zivile und legale Akteure. Der entsprechende Begriff lautet: Verfolgung. Die Verfolgung der Roma in Europa ist eine jahrzehntelange Tatsache, ein Ende der Gewalt und Repression ist nicht in Sicht.“

Montag, 26. Oktober 2015

III. Asymmetrische Repression

III. Asymmetrische Repression   PDF
Luis Liendo Espinoza


"Asymmetrische Repression oder asymmetrische Verfolgung kann die offene und strukturelle Gewalt genannt werden, mit der Roma in Europa konfrontiert sind. Im Gegensatz zur klassischen Verfolgung unter einem autoritären oder faschistischem Regime zeichnet sich Verfolgung im postnazistischem Europa des 21. Jahrhunderts durch eine verstörende Gleichzeitigkeit von ebenso prominenten wie folgenlosen Initiativen und Maßnahmen gegen eine Diskriminierung der Roma, einem allgegenwärtigen formalen Bekenntnis zu Menschenrechten und Toleranz mit offener brutaler Verfolgung aus. Übergriffe und Pogrome sind kein Staatsgeheimnis. Sie sind der Bevölkerung vor Ort bekannt und werden von internationalen Menschenrechtsorganisationen auch dokumentiert. Diese für moderne Gesellschaften bezeichnende Diskrepanz zwischen demokratischen Ansprüchen und Erklärungen mit der Realität, der sture Unwille die Prinzipien von Recht und Freiheit auch effektiv zu verteidigen, erzeugt eine gedoppelte soziale Wirklichkeit: Good will und eifrige Menschenrechtsarbeit einerseits, die Fiktion einer engagierten und kritischen Gemeinschaft, jahrzehntelanges Elend, Pogrome und Misshandlung andererseits, die Wirklichkeit einer indifferenten Gesellschaft, welche unfähig ist, die mühsam errungenen zivilisatorischen Standards zu verteidigen."

Sonntag, 6. September 2015

II. Polizei gegen Roma

II. Polizei gegen Roma   PDF
Luis Liendo Espinoza


Neben einer schier unübersehbaren Masse an Übergriffen durch einzelne Polizisten sind besonders Attacken durch Gruppen von Polizisten bzw. Angehörigen von Sicherheitsbehörden bezeichnend für die Situation allgemeiner Rechtlosigkeit. Hier wird offenbar, dass diese Gewalt nicht allein das Produkt isolierter rassistischer Polizeibeamter ist, sondern von großen Teilen der Polizei getragen und als originärer Teil des Dienstes verstanden wird. Zu diesen Erscheinungen kollektiver Gewalt zählen u.a.


  • willkürliche illegale Festnahmen (Entführungen) von Roma durch die Polizei (zum Teil mit Lösegeldforderung)
  • die stunden- oder tagelange Misshandlung von Roma auf Polizeistationen
  • willkürliche brutale Angriffe auf Gruppen von Roma in der Öffentlichkeit
  • brutale Polizeiüberfälle auf Roma-Siedlungen
  • Vertreibungen von Roma aus deren Siedlungen und Massenabschiebungen

Das Anti Discrimination Centre Memorial erwähnt bspw. die wiederholte Entführung von Romni durch die Polizei in Russland in 2011. Die Frauen wurden stundenlang geschlagen und schikaniert. Eine besondere Form der Demütigung war es, den Frauen gegen ihren Willen die Haare zu schneiden, was bei manchen Roma-Gemeinschaften als schwere Schande betrachtet wird. Die Täter waren sich dieses Sachverhaltes bewusst und brüsteten sich vor den Frauen mit zahlreichen Fotos vergangener Übergriffe. Unter fadenscheinigen Vorwänden werden Gruppen von Roma, darunter vielfach auch Kinder, von der Polizei entführt, bestenfalls nur schikaniert, bedroht und beraubt, in schlimmen Fällen brutal geschlagen oder gefoltert. Nach außen werden Gewalt und Misshandlung nachlässig als Festnahme und polizeiliche Aktion getarnt. TASZ beschreibt in einer Videodokumentation (2010) eine entsprechende Gewalttat in der Ortschaft Taktakenéz in Ungarn. Hier wurde aus nichtigen Gründen eine Roma-Familie auf eine Polizeistation entführt und stundenlang brutal misshandelt. Ein 12-jähriger Junge wurde dabei wiederholt gezwungen, Wasser zu trinken, um anschließend in den Unterleib geschlagen zu werden. Seine Mutter musste seine Tortur mit Handschellen gefesselt ohnmächtig anhören. Nach Angaben der Opfer führten die Beamten kein Verhör oder eine Befragung durch. Die Gefangenen wurden ohne Erklärung misshandelt und anschließend kommentarlos freigelassen. Der damals 12-jährige Junge wurde von den Ereignissen schwer traumatisiert. Laut einem ERRC Bericht von 2005 nahmen Polizeibeamte in Russland regelmäßig ohne formale Haftverfahren Roma fest, um von den eingeschüchterten Angehörigen ein Lösegeld erpressen zu können. Die willkürliche Festnahme von Roma und deren ebenso willkürliche Freilassung werden in den Fallbeschreibungen zu Polizeigewalt oft nur am Rande erwähnt, weil sie von Gewalttaten und Folter überschattet werden. Es sind in der Regel nur die spektakulären Fälle an Polizeigewalt, welche für die Öffentlichkeit dokumentiert werden oder in den Medien erscheinen. Abgesehen von allgemeinen Einschätzungen durch Menschenrechtsorganisationen gibt es dazu nur wenige stichhaltige Daten, doch alles deutet daraufhin, dass Polizeigewalt ein fester Bestandteil des Lebens vieler Roma in Europa ist.“

Sonntag, 9. August 2015

Roma allege police brutality in eastern Slovak village

"Bruised and wounded legs and backs were on full display for television cameras the day before Easter as a group of Roma from the eastern-Slovak village of Vrbnica complained of an inappropriate police raid."

http://spectator.sme.sk/c/20056808/roma-allege-police-brutality-in-eastern-slovak-village.html

Sonntag, 19. Juli 2015

I. Pogrom und Mobgewalt

I. Pogrom und Mobgewalt   PDF
Luis Liendo Espinoza


Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom Juli 2005 beschreibt die Vorgeschichte zu den Ereignissen in Hădăreni/Rumänien folgendermaßen:

"Am Abend des 20. September 1993 brach eine Schlägerei in einer Bar im Zentrum der Ortschaft Hădăreni (Mureş district) aus. Rapa Lupian Lăcătuş, Aurel Pardalian Lăcătuş, zwei Roma-Brüder und Mircea Zoltan, ein weiterer Roma, begannen einen Streit mit dem Nicht-Rom, Cheţan Gligor. Die verbale Konfrontation artete in eine physische aus, welche mit dem dem Tod von Cheţan Crăciun endete, der seinem Vater zu Hilfe kommen wollte. Die Roma flohen daraufhin vom Tatort und suchten Schutz in einem Nachbarhaus." (1)

Die Reaktion auf diese gewaltsame Auseinandersetzung war spontan, brutal und traf auf keinen Widerstand innerhalb der Nicht-Roma Bevölkerung. Ein Mob, darunter selbst Polizisten und der Polizeichef der Ortschaft, belagerte das Wohnhaus, in dem die 3 Roma Zuflucht gesucht hatten und setzte das Haus in Brand. Als sich zwei Roma vor den Flammen aus dem Haus retten wollten, wurden diese vom Mob mit Pfählen und Knüppeln angegriffen. Rapa Lupian Lăcătuş starb in Folge der Angriffe an inneren Blutungen, mehrfachen Verletzungen seiner Leber und Hämatomen auf 70% seines Körpers. Sein Bruder Aurel Pardalian Lăcătuş wurde ebenfalls vom Mob gelyncht, eine Autopsie ergab 89 Läsionen auf seinem Körper. Mircea Zoltan wurde mit Gewalt daran gehindert, das brennende Haus zu verlassen und verbrannte in den Flammen.

Zu diesem Zeitpunkt gerieten die verbliebenen Roma in der Ortschaft in Panik und versuchten ihre Kinder und Angehörigen in Sicherheit zu bringen. Nach dem Lynchmord an den drei Roma brannte der Mob 13 weitere Roma-Häuser ab, zerstörte Autos und Ställe. Der Terror zog sich noch bis zum nächsten Tag hin, als Roma, welche in den zerstörten Häusern nach Habseligkeiten suchten oder ihre Schweine aus den Ställen retten wollten, von verbliebenen Gruppen geschlagen oder von Polizisten mit Pfefferspray drangsaliert wurden. Die Sippenhaftung ist ein festes Prinzip im Umgang der Mehrheitsgesellschaft mit Roma. Jede tatsächliche oder vermeintliche Verfehlung eines Roma wird mit unverhältnismäßiger Gewalt blindlings an unbeteiligte Roma geahndet.

Das European Roma Rights Center (ERRC), eine etablierte NGO, die auf internationaler Ebene tätig ist, spricht von rund 30 Pogromen gegen Roma, welche in den 90er Jahren in Rumänien stattfanden. Die Berichte über die Welle der Pogrome gegen Roma im post-kommunistischen Rumänien lesen sich wie Schauergeschichten aus einer vergangenen Zeit. Mit Fackeln, Knüppeln und Mistgabeln bewaffnete Anwohner, welche brandschatzen und Roma, auch Frauen und Kinder, brutal angreifen und verjagen. Polizisten, welche nichtsahnende Roma, die gerade von der Arbeit heimkehren und mitten im Pogrom landen, verschleppen und stundenlang misshandeln, Roma Familien, welche in Panik vor dem Mob fliehen, bei Verwandten im Nachbarort Unterschlupf finden, sich in Ställen oder im Wald verstecken. In manchen Fällen zieht sich die Gewalt über Tage hin. Rechnet man die Folgen der Gewalt - Obdachlosigkeit, die Weigerung der Behörden die Vorfälle adäquat zu untersuchen und den Opfern materiell beizustehen - hinzu, finden sich manche Roma monatelang in einer feindseligen Umwelt wieder, die ihre Existenz effektiv bedroht.

Nach einem schweren Angriff auf eine Roma-Siedlung in Basarab/Rumänien im Dezember 1990 bei dem 15 Roma-Wohnhäuser durch einen Mob von ca. 400 Personen, darunter der Polizeichef, zerstört und mindestens 15 Roma verletzt wurden, ebbt die Gewalt nicht ab. Eine Augenzeugin berichtete gegenüber Human Rights Watch (HRW, damals Helsinki Watch):

"Ich war mit meinen vier Kindern zuhause, als eine große Anzahl an Anwohnern sich dem Wohnblock (genannt NATO), in dem ich lebe, näherte. Dies war am zweiten Tag [des Pogroms] um ca. 16.30. Ich verlor meinen Vorderzahn durch einen Schlag auf meinem Mund durch einen Anwohner. Meine Kinder wurden auch geschlagen. Eines wurde am Kopf geschlagen, aber die Verletzung war nicht ernsthaft. Ich ging nicht zum Doktor, aber sie können sehen, ich habe keinen Zahn. Einen Monat lang hatte ich Angst, hinaus zu gehen. Ich sah auch Laura Stoian, welche schwanger war und geschlagen wurde. Sie musste aufgrund ihrer Verletzungen in ein Spital und zog darauf hin, in eine andere Ortschaft."

Am zweiten Tag des Pogroms wurden weitere 10 Wohnungen angegriffen und mindestens 10 Roma geprügelt. Eine weitere Augenzeugin beschreibt ihr Leben nach dem Angriff:

"Einen Monat lang reisten wir herum, lebten unter einer Brücke, auf Bahnhöfen etc. Es war kalt, verregnet und mein kleines Mädchen wurde krank. Sie war vorher niemals krank gewesen, sie starb am 14. März. Wenn ich heute zum Markt gehe, werde ich von den Leuten bedroht, sie sagen, sie werden mich töten. In der Nacht haben wir Angst schlafen zu gehen. Wir haben Kinder. Mein Ehemann ist inhaftiert und ich bin in der Nacht allein mit drei Kindern. Natürlich wurde niemand für die Beschädigungen unserer Heime oder dafür uns geschlagen zu haben inhaftiert."

In Dolno Belotintsi/Bulgarien im Februar 1994 zogen sich die Angriffe ebenfalls über mehrere Tage hinweg. Am 24. Februar wurde nach einem Mord an einem Nicht-Roma durch einen Roma eine Roma-Siedlung durch Dutzende Anwohner angegriffen. Die Anwohner traten die Türen der Häuser ein, zerrten die Roma unter Schlägen, zum Teil mit Knüppeln, und Drohungen gewaltsam aus den Häusern. Die Roma wurden von den Angreifern am Ortsplatz versammelt, mussten sich in Reihen aufstellen (!) und wurden gezwungen, in die vier Kilometer weit entfernte Ortschaft Nikolovo zu marschieren. Nachdem die Gruppe in Nikolovo angekommen war, entfernten sich allmählich die Angreifer. Die Mehrzahl der Roma versuchte aus Angst vor weiteren Angriffen in anderen Ortschaften unterzukommen. Am 26. Februar wurde ein Roma-Wohnhaus angegriffen und niedergebrannt. Am 27. Februar fand eine Anti-Roma Demonstration im Anschluss an das Begräbnis des ermordeten Nicht-Roma statt. Einer der Organisatoren der Demonstration war der Bürgermeister der Ortschaft, während der Kundgebung riefen die Teilnehmer "Tod den Zigeunern!". Nach der Demonstration wurden erneut mehrere Roma-Wohnhäuser angegriffen. Als HRW im Mai 1994 die Vorfälle untersuchte, schliefen obdachlose Opfer des Pogroms zum Teil in öffentlichen Toiletten, um ein Dach über den Kopf zu haben.

Zu den schweren Angriffen zählen auch Überfälle durch größere Gruppen von Rechtsextremisten und Skinheads auf Wohnhäuser und in der Öffentlichkeit. So in Žiar nad Hronom/Slowakei im Juli 1995 als 30 Skinheads wahllos Roma in der Ortschaft angriffen, Brandsätze in ein von Roma frequentiertes Lokal und in ein Roma-Wohnhaus warfen. Schließlich wurde der 17-jährige Roma Mario Goral bewusstlos geschlagen, mit einem Messer geritzt, einem selbst hergestellten Brandbeschleuniger übergossen und in Brand gesetzt. Goral erlitt erlitt dabei Verbrennungen 2. und 3. Grades auf 60% seiner Hautoberfläche und erlag Tage später seinen Verletzungen.(2)

Neben Pogromen mit Hunderten Angreifern, Überfällen auf Wohnhäuser und deren Bewohner durch kleinere Gruppen von 10 - 50 Personen fallen unter dem Begriff Mobgewalt auch brutale Angriffe und Hetzjagden in der Öffentlichkeit, versuchte Angriffe auf Roma-Viertel, welche nur durch Polizeigewalt verhindert werden konnten und etliche andere Gewalttaten, welche von nicht-staatlichen Akteuren unternommen wurden. In vielen Fällen war eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Roma und Nicht-Roma der Vorwand, um unbeteiligte und nichtsahnende Roma in ihren Häusern anzugreifen, ihr Eigentum willkürlich zu zerstören und Hunderte Roma obdachlos zu machen. In anderen Fällen waren es Lappalien oder Gerüchte, welche die Gewalt auslösten. So in Glushnik/Bulgarien im November 1993 als 20 Roma, darunter Frauen und Kinder, welche auf einem privaten Weingut Trauben sammelten, von privaten Sicherheitswachen in einem Schweinestall gesperrt und unter Beteiligung von hinzugekommenen lokalen Zivilisten stundenlang misshandelt wurden. In Sredno Selo/Bulgarien wurden im April 1997 5 Roma, welche angeblich Kälber gestohlen hatten, vor das Büro des Bürgermeisters festgebunden und vor einer tosenden Menge öffentlich misshandelt.

Die Gewalt gegen Roma fand nach den Turbulenzen des Falls des Ostblocks kein Ende. Auch im 21. Jahrhundert setzten sich die schwere Angriffe gegen Roma fort. Internationales Aufsehen erregte der Fall in Ambrus/Slowenien im Oktober 2006. Damals war nach einem Streit zwischen zwei Nicht-Roma, von denen einer bei einer Roma-Familie wohnte, eine 31-köpfige Roma-Familie von den Anwohnern, welche offen ihren Tod forderten, aus ihren Häusern vertrieben worden. Der Fotograf Borut Peterlin fotografierte die Familie als sie sich damals 10 km von ihren Häusern mehrere Tage im Wald vor dem Mob versteckte. Mehrmals näherten sich Unbekannte der Familie im Wald und riefen Todesdrohungen. Versuche der Behörden die Familie wieder in ihren Häusern zurückkehren zu lassen, scheiterten an der Gewaltbereitschaft der Anwohner. Es dauerte ein Jahr bis der Familie eine annehmbare Unterkunft geboten wurde.

Nach einer angeblichen Kindesentführung durch eine 16-jährige Romni, die genauen Umstände bleiben unbekannt, kam es im Bezirk Ponticelli in Neapel im Mai 2008 fünf Tage lang zu Angriffen gegen Roma. Bereits drei Stunden nach dem Vorfall wurde ein unbeteiligter Roma, der sich nach der Arbeit auf dem Heimweg befand, von 20 Angreifern überfallen und schwer verletzt. Zwei Tage später wurde der Eingang zu einer Roma-Siedlung in Brand gesetzt. Zwischenzeitlich zogen sich Roma, die vereinzelt im Bezirk wohnten, aus Angst vor Angriffen in die größeren Roma-Siedlungen zurück. Die verlassenen Behausungen wurde in der Nacht von Unbekannten niedergebrannt. Drei Tage nach dem Vorfall griffen 300-400 mit Metall- und Holzknüppel bewaffnete Anwohner des Bezirks, die größte Roma-Siedlung im Bezirk an. Steine wurden auf Behausungen und Wohnwagen geworfen, Autos demoliert und die Bewohner der Siedlung bedroht. Am gleichen Tag wurden mehrere Roma von kleineren Gruppen überfallen. Nach weiteren Angriffsversuchen und Brandstiftungen waren die Roma gezwungen, den Bezirk zu verlassen.

Vom März bis April 2011 wurden in Gyöngyöspata/Ungarn die Roma der Ortschaft wochenlang von rechtsextremistischen Milizen bedroht und drangsaliert. Als selbsternannte Bürgerwehren patrouillierten die Rechtsextremisten durch den Ort, hinderten Roma daran, bestimmte Straßen zu betreten und nehmen selbst Personenkontrollen durch. Nach Aussagen von Amnesty International "zwangen Drangsalierungen und Drohungen Roma-Familien dazu, ihre Kinder nicht mehr in die Schule zu schicken." Rechtsextremisten sprachen offen Todesdrohungen gegen Roma aus bzw. bedrohten Roma mit Waffen und Hunden. Aus Sorge um die Sicherheit der Roma wurden im April schließlich 300 Roma vom ungarischen Roten Kreuz evakuiert. Nur wenige Tage nach der Evakuierung kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Roma und Rechtsextremisten.

In Bulgarien kam es im September 2011 nach einem durch einem Roma verursachten Tod eines Nicht-Roma in Katunitsa in mindestens 7 Ortschaften und Städten zu Angriffen auf Roma oder Auseinandersetzungen zwischen Polizei und zum Teil mit Hämmern, Messern und selbst gefertigten Sprengkörpern bewaffneten Demonstranten, welche nur mit Gewalt daran gehindert werden konnten, Roma-Viertel anzugreifen. Es waren die europaweit bis dahin größten Anti-Roma-Ausschreitungen und der erste landesweite Pogrom gegen Roma.

Insgesamt fanden 1990 - 2014 in Europa weit über 100 Pogrome und pogromartige Ausschreitungen gegen Roma statt. Zu den Pogromen und Ausschreitungen müssen auch noch viele vereinzelte tödliche Angriffe und unzählige nicht-tödliche Attacken durch nicht-staatliche Akteure mitbedacht werden. Internationales Aufsehen erregten die Morde in Tatárszentgyörgy/Ungarn im Februar 2009 als als ein Roma und sein 5-jähriger Sohn erschossen, die 5-jährige Tochter der Familie angeschossen und die Mutter der Familie und ihr jüngster Sohn verletzt wurden. Der Anschlag in Tatárszentgyörgy war Teil einer Mordkampagne, welche durch eine aus vier Personen bestehende rechtsextremistische Zelle gegen Roma verübt wurde. 6 Roma wurden ermordet, 5 Roma,darunter ein Kind, schwer verletzt, sieben Häuser mit Brandsätzen angegriffen. Insgesamt wurden durch die Anschläge die Leben von 55 Roma direkt gefährdet.(3) In Sandanski/Bulgarien wurde im August 2012 ein Bombenanschlag auf das Büro der Partei Euroroma, welche sie für die Interessen der Roma in Bulgarien einsetzt, verübt. Ein Mitglied der Partei wurde bei dem Anschlag schwer verletzt und erlag Tage später seinen Verletzungen.

In Europa sind Roma seit über 20 Jahren Ziel von brutaler Gewalt. Besonders bedrohlich ist die Situation in Staaten wie bspw. Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Ukraine und Russland. Innerhalb dieser Staaten gibt es regionale, lokale Unterschiede, welche sich in einem unterschiedlichen Vorgehen von Polizei und Justiz hinsichtlich der Gewalt gegen Roma äußern. Doch innerhalb dieser Staaten gibt es Regionen, Städte und Gemeinden in denen Hunderttausende Roma der elementarsten Bürgerrechte beraubt sind.(4) So heißt es in einem Bericht des ERRC über die Situation der Roma in Polen aus dem Jahr 2002:

"In Zabrze, einer Stadt mit ca. 200.000 Einwohnern in der Provinz Schlesien, gaben Roma gegenüber dem ERRC an, dass sie in ständiger Angst vor Skinhead-Attacken leben, welche seit 1996 ein Bestandteil ihres Alltags in dieser Stadt geworden sind. [...] Tatsächlich ist in Zabrze ein Muster erkennbar, das in ganz Polen zu finden ist: Rassistisch motivierte Angriffe und permanente Drohungen von Gewalt gegen Roma"(5)

Es ist unmöglich, diese Bedrohungslage adäquat in statistischen Daten ausdrücken. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass in den meisten Staaten keine systematische und professionelle Stelle zur Beobachtung und Sammlung entsprechender Vorfälle vorhanden ist. Die Anzahl an alltäglichen physischen Attacken gegen Roma lässt sich nicht einmal annähernd abschätzen. NGO's berichten wiederholt vom Unwillen der Betroffenen, Angriffe anzuzeigen. Aus langjährigen Erfahrungen bezweifeln sie, dass die Behörden ihre Rechte durchsetzen und schützen werden oder fürchten gar Repressalien durch Polizei und Justiz, wenn sie es wagen, sich juristisch zu verteidigen. Der Data in Focus Report 06 - EU-Midis der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) berichtet, dass 69% der von physischen Angriffen und Drohungen betroffenen Roma, keine Anzeige bei der Polizei erstatten.(6) So sind es in erster Linie nur Pogrome, schwere Angriffe und Morde, welche, wenn überhaupt, in der Öffentlichkeit registriert werden. Während der Kosmos an leichten Angriffen und Anpöbelungen unerkannt bleibt. Wird diese alltägliche Gewalt nicht als Moment der Exzesse gedacht, erscheinen die Angriffe als Ausschreitungen, als eine Verletzung der Norm. Dann wären Roma nach einem Angriff von Extremisten weiterhin anerkannte Bürger, welche ihre Rechte umgehend geltend machen würden, um sich gegen diese Übergriffe zur Wehr zu setzen. Vieles spricht jedoch dafür, dass, wenn auch nicht flächendeckend, ein beträchtlicher Teil der Roma in einer Welt lebt, in der physische Anfeindungen verschiedenster Art zum festen Bestandteil des Alltags zählen. Graziano Halilovic, Mitglied der Organisation Roma Onlus, über die Verhältnisse in Italien:

"Es gab eine weite Mobilisierung gegen die Monster und in diesem Fall sind die Monster wir, Roma und Sinti. Diese bedeutet, dass jeder meint, er hätte die Pflicht uns schlecht zu behandeln, sie fühlen sich dazu berechtigt. Dies schafft einen gewaltigen psychologischen Terror für Roma. Über die tatsächlichen Geschehnisse hinaus, ist immer die Angst, was noch passieren könnte. Es gibt Schläge, Misshandlungen gegen Frauen, welche auf den Straßen um Geld bitten. Die Leute sagen. »Ich wache auf, ich muss den Tag angehen und frage mich, was wird heute mit mir passieren?"(7)

Ähnliche Aussagen finden sich in vielen detaillierten Berichten zu der Situation der Roma in Europa. Roma fühlen sich unsicher, meiden bestimmte Straßen, Bezirke und leben mit der allgegenwärtigen Drohung von Gewalt. Nach dem Data in Focus Report 06 - EU-MIDIS geben europaweit 18% der Roma an, in den letzten 12 Monaten, Opfer eines physischen Angriffs oder einer ernsthaften Belästigung mit rassistischem Hintergrund gewesen zu sein. An der Spitze liegen die Tschechische Republik (32%), gefolgt von Griechenland, Polen (26%), Ungarn (19%) und der Slowakei (16%). Der Bericht bringt die niedrige Anzeigenrate, abgesehen vom fehlenden Vertrauen in die Behörden, damit in Verbindung, dass die Opfer sich an die wiederholten Anfeindungen gewöhnt haben.(8) Ungeachtet aller Erklärungen und Versicherungen, welche von offizieller Seite gegeben werden: Die Gewalt gegen Roma in Europa ist seit über zwei Jahrzehnten außer Kontrolle. Die Chronologie Pogrome, pogromartige Ausschreitungen gegen Roma in Europa 1990-2014 (9) dokumentiert die Gewalt gegen Roma durch nicht-staatliche Akteure. Abgesehen von wenigen Experten ist diese Geschichte, obwohl relativ gut dokumentiert, in dieser Einheit der Öffentlichkeit so gut wie unbekannt.



(1) Siehe Dokumentation Pogrome , pogromartige Ausschreitungen gegen Roma in Europa 1990 – 2014: http://truefaceofeurope.blogspot.co.at/p/blog-page.html
(2) Im Mai 2007 wurde der 26-jährige Roma Jan Tóth in Hodonin/Tschechische Republik mit Toluol, das dieser selbst inhaliert hatte, von vier Neo-Nazis übergossen und in Brand gesetzt. Das Opfer erlitt Verbrennungen 2., 3. und 4. Grades und erlag Tage später seinen Verletzungen: http://www.romea.cz/en/news/czech/he-was-sniffing-toluene-so-they-set-him-on-fire; November 1996 wurde der 21-jährige Roma Ernst Horvath von 3 Skinheads aus einem Bus gezerrt, mit Benzin übergossen und angezündet. Er erlitt Verbrennungen 3.Grades auf 30% seines Körpers. ERRC: Time of the Skinheads. Denial and Exclusion of Roma in Slovakia, S. 7; Im Juli 1996 wurde der 15-jährige Fatmir Haxhiu - nachdem er, sein 13-jähriger Bruder und ein Freund stundenlang von vier Männern misshandelt wurden - mit Benzin übergossen und angezündet. Er erlitt Verbrennungen 3. Grades auf 55% seines Körpers und verstarb wenige Tage nach dem Überfall: http://www.errc.org/popup-article-view.php?article_id=1492.
(4) Die ungarischen Behörden sprachen gegenüber einer OSCE-Delegation 2009 von 104 Ortschaften in Ungarn, in denen es Probleme mit Anti-Roma Gewalt gab. OSCE - Office for Democratic Institutions and Human Rights: Field Assessment of Violent Incidents against Roma in Hungary S.20, Fn. 30.
(5) http://www.errc.org/cms/upload/media/00/0A/m0000000A.pdf. Der Bericht behandelt u.a. Gewalt gegen Roma in Polen anhand der Kleinstadt Zabrze, wo Roma jahrelang Opfer von schwerer Gewalt wurden, ohne dass Polizei und Justiz effektiv einschritten; In einem Bericht des ERRC zu Makedonien: "Roma aus der Stadt Vinica erzählen dem ERRC, dass aufgrund der Häufigkeit der Attacken auf Roma in Kočani, diese beständig in ländlichere Gemeinden wie Vicina ziehen.": http://www.errc.org/cms/upload/media/00/11/m00000011.pdf
(6) FRA: Data in Focus Report. EU-MIDIS 06. Minorities as Victims of Crime, S. 14; In einem HRW-Bericht über Rassismus in Italien, heißt es: "Our interviews, including with individuals who reported physical abuse, confirmed the view of NGOs representing or working with Roma that Roma are extremely reluctant to report discrimination or abuse of any type." HRW: Everyday Intolerance. Racist and Xenophobic Violence in Italy, S.43; "Numerous examples of even the gravest abuses against Roma remain not only uninvestigated but unknown to anyone except the victims and their close relatives, who fear speaking about such events." Anti-Discrimination Centre MEMORIAL: Roma, Migrants, Activists: Victims of Police Abuse (2012) S.14.
(7) HRW: Everyday Intolerance. Racist and Xenophobic Violence in Italy, S.42; Zumindest in den 90er Jahren war in Teilen Albaniens die Lage der Roma ebenfalls von Vogelfreiheit gekennzeichnet. Ein Romni, welche bereits aus ihrem Haus vertrieben worden war, gegenüber dem ERRC: "Diese Hütte ist ein Monat alt, aber wir sind auch hier nicht sicher. Gadje sind in den letzten 3 oder vier Jahren über 10-mal zu uns gekommen. Es sind verschiedene Leute, Junge und Erwachsene. Sie kommen zu verschiedenen Tageszeiten. Meistens kommen sie in der Nacht, wenn sie betrunken sind, aber sie kommen auch mitten am Tag. Manchmal dringen sie in das Haus ein, aber meistens bleiben sie in Gruppen vor dem Haus. Sie suchen einen Kampf, haben immer Messer und manchmal selbst Schusswaffen mit. Sie schießen in die Luft und provozieren Auseinandersetzungen mit unseren Männern. Mehrmals hielten sie einige unserer Männer fest, banden sie fest und schnitten ihnen die Haare." ERRC: No Record of the Case. Roma in Albania, S. 47.
(9) http://truefaceofeurope.blogspot.co.at/p/blog-page.html

Freitag, 3. Juli 2015

Forced Evictions of Paris Slum Leave 200 Roma Residents Homeless

The Roma residents, who originate mostly from Romania or Bulgaria, were eventually evicted around midday, in the pouring rain. They had been warned the night before by the Seine-Saint-Denis prefecture that the camp would be evacuated "within 48 hours." No further details were provided. Many of the occupants had already left when the police arrived. While adequate housing has been provided to some families, many residents have ended up in hotels and hostels in and around Paris.

Mittwoch, 1. Juli 2015

Blog "Verfolgung der Roma in Europa"

Der Blog „Verfolgung der Roma in Europa“ wird nun veröffentlicht. In den nächsten Tagen werden die ersten Texte publiziert. Die Dokumentationen werden zu gegebener Zeit aktualisiert werden.